Brieftaube das Logo des Poesie-Briefkastens
Poesie, Lyrik, Logo des Poesiebriefkasten
Poesie-Briefkasten
Wirtstraße 17
81539 München

Gedicht des Monats

September 24 von Andrea Balnat-Schmude



Im Rahmen des Theater-Spaziergangs „Jedamo" findet an der Ruine des Uhrmacherhäusls in München-Giesing eine Versteigerung statt. Das Publikum bietet mit. Mit Gspusi-Musi.




München schillert

Gedichte aus dem Poesiebriefkasten von 111 PoetInnen; Euro 14,90; Taschenbuch; Erhältlich bei amazon, Smart+Nett oder Ihrem Buchhändler; Infos


Poetischer Adventskalender 2018

Ab dem 5. Dezember versorgt der riesige Kalender im U-Bahn-Sperrengeschoss Silberhornstraße – unübersehbar schräg gegenüber vom Lift – die Passanten täglich mit frischer Lyrik. Hier mein Tagebuch:

5.12. Nicole schreibt: Gestern, die Eröffnung war ein Erlebnis des Spontanen und Unerwarteten: Thomas Hirschhorn, der gerade in der Museum Villa Stuck#NeverGiveUpTheSpot ausstellt, schickte einen Beitrag aus Shanghai. Eine chinesische Passantin sang spontan Stille Nacht auf Chinesisch und schrieb es in den Kalender, ein isländisches Gedicht und eine Lebensspruch aus dem Arabischen fanden ihren Weg an den #PoetischenAdventskalender in der U-Bahnhaltestelle Silberhornstraße. Es lohnt sich vorbeizukommen. Jeden Tag wird eine neues Fenster poetisiert. Eine tolle Aktion vom Poesiebriefkasten.

Eine Reportage zur Eröffnung direkt aus der Herzkammer Giesings steht in der SZ

6.12 Marid Schaper hat bei der gestrigen Aktion mit einem Wohnungslosen gesprochen und in Anlehnung an Theodor Storms bekanntes Gedicht "Draußen von der Straße, da komme ich her" heute ein Fensterl gefüllt. Claudia Westhagen schrieb „Freude“ und klebt ein farbenfrohes Bild dazu. Mit strahlenden Augen hat sie es vor einem kleinen Publikum das sich angesammelt hatte vorgetragen. Eine Gruppe Jugendlicher bleibt stehen. Lavina, 12 Jahre, schreibt eine sehr fantasievolle Kurzgeschichte über ein Mädchen, das nicht schlafen wollte. Am Schluss tut der jungen Autorin die Hand weh. Ein 13jähriger Junge mit eigenem Künstlernamen, dichtet an den Nikolaus.  Zwei Männer bleiben stehen und versuchen den arabischen Spruch zu entziffern. Sie selbst kommen aus dem Irak. Ihre Muttersprache ist Aramäisch, was in ihrer Schule verpönt war. Letzten Endes hilft Google. Es geht in dem Spruch um Tapferkeit, darum wie wichtig es ist, für alles was einem wichtig ist einzutreten, in welcher Sprache auch immer.

7.12. Heute kommt ein gut gelauntes Dichter-Trio: Manfred Gutermann, Stephan Larro und Matthias Hartmann – der Club der blinden Dichter. Zusammen haben sie in ihrer Lyrik-Gruppe ein Gedicht verfasst. Die Gruppe trifft sich in den Südbayerischen Wohn- und Werkstätten für Blinde und Sehbehinderte und wird von Frau Dr. Katrin Thiel geleitet, von der die Dichter offenbar sehr begeistert sind. Das Gedicht haben sie sowohl in Schwarzschrift handgeschrieben als auch in Braille ausgedruckt. So wird es an den Kalender drangepappt. Anschließend trägt das Trio sein Werk mit verteilten Zeilen vor. Es heißt: Von A nach B – das passt zum Ort und ist sehr originell! Brigitte Hörling lauscht fasziniert und spendet den verdienten Beifall.
Inspiriert von soviel dichterischem Eifer, schreibt derweil ein Passant, ein junger Kolumbianer, der zur Zeit in Giesing lebt, seine Wünsche für 2019 auf Spanisch in ein Fensterl. Zwischendurch streikt sein blauer Stift und er schreibt mit einem etwas schwer lesbaren gelben weiter. Dafür hat er sein Werk dannn übersetzt. Wir sollen alle miteinander die Erde mehr achten. Das finde ich auch! Inzwischen ist eine weitere Dame stehengeblieben und freut sich riesig als sie ein Gedicht ihrer Freundin Madalina Sora-Dragomir entdeckt: Es weihnachtet ohne Weihnachten zu sein...

9.12. Heute weihnachtet es weiter. Mit Äpfeln, Zimtduft, Kerzenlicht – zumindest poetisch bei Elfie Hafner-Krosenberg. Mit einem fetten roten Edding in die unterste Reihe geschrieben. Dafür geht sie – gerade eben mal Oma geworden – auch gern und topfit in die Hocke. Auf gleicher Ebene begegnet ihr die 6-jährige Felia, die gestern hier ihr Selbstportrait hinterlassen hat, eine Art Herzl-Strichmännchen, das sie heute noch um ihre Signatur und andere neonpinke Details ergänzt. Ein schön ruhiger Abend im Sperrengeschoss, dennnoch bleiben einige Passanten stehen lesen, dann geht’s ab nachhaus. Mal sehen oben sie die mitgenommenen Postkarten verschicken.

10.12. Alles schon erledigt: Brigitte Obermaier alias Zauberblume hat ein Gedicht – oder ist es fast schon eine zauberhafte Kurzgeschichte? – zum kurzen Lebenslauf eines zu kurzen Kerzendochts geschrieben und illustriert. Die darunterliegende Nachricht in Geheimschrift hat sie damit noch geheimer gemacht, bevor wir sie dechiffrieren konnten. Gemeinsam gucken wir dann, ob der Kalender Zuwachs bekommen hat. Am Rande finden wir eine still und leise hingeschriebene Pretiose: Vielleicht erfahren wir noch, was der Vers bedeutet, der in Farsi/Arabisch (ist es das?) verfasst ist...

Angelika Luible schaut vorbei, was es Neues gibt, sie ist auf dem Weg Leute zur Mahnwache am Uhrmacherhäusl am 14.12. einzuladen.

11.12. Chris Uray bereichert heute den Kalender mit einem Weihnachtsgedicht, und würdigt darin auch die Poesieboten, was mich besonders freut. Darauf folgt ein kurzer Plausch mit einer Dame, die Mitmacher für ein Filmprojekt sucht. 
Es ist erst der 11.12., doch schon sind fast alle Fensterl voll. Wo sollen sich nur die ganzen noch angemeldeten Poeten eintragen? Rettung naht: Angelika Luible bringt aus dem Büro DIN A3-Kartons mit. Die kleben wir als Türl auf die Fensterl. Aufgeregt wedeln sie im Takt der einfahrenden U-Bahnen im Fahrtwind und warten auf weitere Poesie...

12.12. Nicole Hilbrand hat zwei Gedichte mitgebracht: Ihre eigenen sternklaren „Wintergedanken“ – die schreibt sie in den Kalender ein. Ein lustiges Gedicht aus Kindertagen, „Die Weihnachtsmaus“ von James Krüss, liest sie einer aufmerksamen Zuhörerin vor. Ein Junge will stehenbleiben, aber die Eltern haben keine Zeit.
Wir bleiben noch stehen und ratschen. Das zieht Leser an. Eine ältere Dame meint früher haben die Menschen schöner geschrieben, eine junge fragt, ob wir Poetry Slams veranstalten. Wir erhalten etliche Komplimente für die Aktion. Handyfotos flutschen in Whatsapp-Gruppen. Als uns kalt wird, merken wir, dass wir schon fast zwei Stunden herumstehen. Ciao – bis nächstes Jahr

13.12. Jeden Tag ein Gedicht. Das war die Grundidee des Kalenders – haha, wir haben heute bestimmt schon über 24. Sigrid Voss hat ein Gedicht bereits fertig mitgebracht. Wunderschön. Drangeklebt. Ein zweites ist ihr gerade heute noch eingefallen. Das schreibt per Hand ein. Mit dem Platz kann ich wegen der Klappen jetzt großzügig sein. Während Sigrid schreibt und malt mit verschieden farbigen Stiften studiere ich, was sonst noch auf dem Kalender gelandet ist. Cool! Da ist ja ein netter Spruch von Geet. Den hab ich ja lange nicht gesehen. Ob der Spontanpoet auch bei diesem Wetter an der Reichbachbrücke oder in der Leopoldstraße dichtet? Und da ein farbenfroher Gruß an Giesing von einer Lisa. Später spricht mich eine junge Frau an: „Tolle Aktion“ Es ist Lisa. Überhaupt findet sie Giesing so toll – sie wohnt erst seit einem Jahr hier in der Gegend.

Da wo ein oder zwei beisammenstehen, da stehen bald noch mehr zusammen. Das ist quasi Poetischer-Adventskalendergesetz. Drum stehe ich herum (was ich gut kann) und ratsche mit Passanten bis Sigrids Gedicht fertig ist. Wunderschön mit Kerze und Stern verziert. Ich hefte noch ein paar Postits an die Tafel für die ganz kleinen Gedanken. Brr jetzt wird’s langsam kalt.

15.12. Niemand hat unsere Aktion  so auf den Punkt gebracht wie Helena Schmidt. Unsere reicher und reicher werdende Tafel ist ein Geschenk an alle, die hier vorbeigehen. Ein Geschenk, zu dem jeder etwas beitragen kann. Ein Geschenk, das ohne die Unterstützung des Bezirksausschuss nicht möglich wäre. Helena hat ihr Gedicht wie ein Geschenk gestaltet. Verschmitzt und auf Kinderhöhe guckt es aus dem aufgerissenen Einwickelpapier hervor und verleiht unserer Tafel etwas Märchenhaftes.

17.12. Manchmal tun Gedichte richtig weh. Thomas Fleckensteins „Stille Not“ hängen wir an eines der Türl und es findet sofort Leser. Von Kindern im Jemen hat er gehört, die einfach nicht mehr lachen können. Das trifft. Es reicht nicht aus, einmal im Jahr ein bisschen Geld zu spenden, denn „wollen wir die Welt verwandeln, müssen wir gemeinsam handeln.“

Eine Frau, Florence, in einem dicken Mantel bleibt stehen. Sie will etwas schreiben und überlegt kurz. „Frieden für die Welt.“ Das ist ihre Botschaft, nicht mehr und nicht weniger. Ehrensache, dass ihr Begleiter Philipp auch unterschreibt. Darunter ein gekonnter Ottifant.

18.12. Mit einer einfachen Geschichte fing vor 2000 Jahren alles an. Eine Frau, schwanger, und ein Mann suchen eine Unterkunft. Gar nicht so sensationell, nicht anders als heute? Ein einfaches nachdenkliches Gedicht schreibt Martin Mairhofer in den Kalender. Er macht schon das zweite Mal mit und kommt dafür extra aus Fischbachau. Während er schreibt kommen aufmerksame Leser.

Später bleibt ein junges Touristenpaar stehen, sie sind mehr oder weniger zufällig zusammen unterwegs. Der Adventskalender begeistert sie beide. Die junge Frau, Brasilianerin, schreibt auf Portugiesisch Weihnachtsgrüße, während der junge Mann, ein Weltenbürger, fast schlafwandlerisch beginnt eine Reihe unterschiedlicher stilisierte Baumformen zu zeichnen als sei dies eine neue universelle Sprache.

Weihnachten naht. Niemand, mit dem wir reden, hat wirklich Lust auf den Konsumwahn...

19.12. Alle Jahre wieder purzeln aus den Zeitungen weihnachtsfarbene Prospekte, die zum Kaufen verführen sollen. Irmgard Osterrieders Gedicht, das sie heute in den Adventskalender einträgt, hat für diesen Schwall nur ein lässiges „Ach ja“ übrig. Während sie schreibt bediene ich mich aus ihrer mitgebrachten Dose mit Süßigkeiten. Irmgard hat den Poesiebriefkasten über die Aktion „Gedicht des Monats“ kennengelernt. Sie hat bereits mit zwölf Jahren begonnen zu dichten. Lange Zeit hat sie nur für die Schublade geschrieben. Nun, heute hat sie ihre konsumkritischen Zeilen an die Öffentlichkeit gebracht! Ich kriege die Dose mit den Leckereien geschenkt. Schließlich ist bald Weihnachten.

20.12. Jetzt, kurz vor Schluss, wirds richtig schaurig: Der Senninger Hans lehrt uns mit seiner „Sendlinger Mordsweihnacht“ das Gruseln. Alles streng historisch, versteht sich und auf Bairisch sowieso. Und damit es uns über die Feiertage nicht fad wird, gibt es noch einen Crashkurs in bairischer Diphtongologie obendrauf. Was is jetzt des scho wieda? Also erstens einmal eine Gaudi und zweitens soll er das nächstes Jahr gscheit erklären.  „Gib mal deinen Uhu her.“, sagt der Richard Maresch und bappt sein Weihnachtsgedicht dazu.

Dem Stillen und Leisen ist Josefa Weindls Gedicht gewidmet. Unbeachtetes entfaltet oft die größte Kraft. Für Poesie trifft das unbedingt zu, finde ich.

25.12. Ein Mädelstrupp kichert in der feiertäglichen Ruhe des Sperrengeschosses. Mimi und ihre vier Freundinnen kommen aus Nürnberg, machen einen Ausflug nach München und haben gerade den Adventskalender entdeckt. Jetzt wollen sie etwas hineinschreiben. Ein Stift fehlt. Wie gut, dass ich zufällig vorbeikomme. Toleranz und Frieden für alle Menschen wünscht Mimi, ihre Freundin Peace, Love and Freedom!

30.12. Nicoles Gedicht hat ein neues Zuhause gefunden. Ansonsten ist unser Kunstwerk unversehrt und poetisch reich bestückt immer noch zu sehen! Es lohnt die vielen kleinen Botschaften zu studieren. „Lasst Giasing bunt, vielfältig und kulturell bleiben.“, meint Lisa.

01.01. Josefa schreibt: Interessant war, dass in der Zeit, in der wir dastanden und die Texten lasen, immer wieder Leute stehengeblieben sind und geschaut haben, was wir da lesen. Ein Mädchen, das mit seinen Eltern schon fast vorbeigegangen war, drehte sich zu uns um und sagte "Weihnachten" mit einer Betonung, als wäre heute der Heilige Abend ... das kam direkt aus dem Herzen, sehr berührend. Mir gefällt der poetische Adventskalender sehr gut ... bestimmt haben viele Menschen darin gelesen, denn er ist optisch sehr ansprechend gestaltet.

07.01. Wir haben Glück und unsere Tafel hängt noch immer. Um den Klebern die die Plakate anbringen die Arbeit nicht zu erschweren, haben wir heute alles was wir hingeklebt  haben (mit Tesa, Aufkleber etc) entfernt...

Katharina 

Der poetische Adventskalender findet dank der freundlichen Unterstützung des Bezirksausschuss 17 statt