Vor dem Kino am Sendlinger Tor,
an einem regnerischen Tag
bot er mir seinen Regenschirm an.
In der Unterführung, am Sendlinger Tor
rief er mich zum ersten Mal an.
Während des Pfeifen einer U-Bahn, am Sendlinger Tor,
drückte er meine Hand und flüsterte mir
etwas Geheimnisvolles ins Ohr.
Kurze, bezaubernde Augenblicke
unseres Beisammenseins,
spielten sich rund um das Sendlinger Tor ab.
Ob Regen, ob Schnee, ob heiß oder kalt,
der gleiche Treffpunkt,
die gleiche Uhrzeit.
Ich kannte jede Bank, alle Bars und Läden
rund um das Sendlinger Tor.
Ich befreundete mich mit Goethe und Beethoven,
ich bereiste die Welt, den Mond...
Stellte keine Fragen, nahm was ich bekam
und gab was ich schenken durfte.
Und schwebte vor Glück durch die Wolken...
Die Jahreszeiten vergingen.
Wie viele, habe ich nie gezählt.
Weiß nur, dass er eines Tages nicht erschien.
Den Tag danach und viele andere auch nicht.
Suchte ihn in allen Ecken und Kanten
des Sendlinger Tors.
Rief ihn mehrmals an.
Die unfreundliche Stimme eines Computers,
informierte mich jedes Mal
über die Nicht Anwesenheit des Ansprechpartners.
Vor enigen Wochen wurde ich von einem Pfleger aus der
Nervenklinik am Sendlinger Tor gefragt,
ob ich den Mann auf dem Foto erkenne.
Er leide an Alzheimer
und sei seit einiger Zeit verschwunden...
Nein, ich hätte ihn nie gesehen, antwortetet ich.
Da ich schwarze Brillen trug,
konnte er meine Tränen nicht sehen...
Ich gehe täglich zum Sendlinger Tor.
Begrüße den Tag und meinen nowhere Geliebten.
Dann gehe ich durch das Tor, Richtung Marienplatz
und lass mich von den Flügeln
meines Restschicksales führen...
Anonymes Märchen am Sendlinger Tor
aus dem Band: "Und ich tanze..." von Madalina Esselmann
Meinem besten Freund Wolfgang, dem Pflegevater meiner Gedichte...